Hajo
Gruber, seit Mai Bürgermeister von Kiefersfelden, ist auf einen Rollstuhl
angewiesen - und erfährt gerade am eigenen Leib, dass es mit der
Barrierefreiheit in Behörden nicht weit her ist. Er arbeitet in einem
Kammerl im Erdgeschoss, weil sein Amtszimmer nur über Treppen zu erreichen
ist.
VON HEINER EFFERN
Kiefersfelden — Vier Männer sind nötig, um Hajo Gruber zum Regieren zu
tragen. Zwei packen links an, zwei rechts. So werden die 90 Kilogramm, die
Gruber mit seinem Rollstuhl wiegt, gleichmäßig verteilt. Dann stemmen ihn
die Männer hoch und bringen ihn die Treppe hinauf. Zumindest vor der Sitzung
arbeiten die Gemeinderäte von Kiefersfelden fraktionsübergreifend zusammen.
An das obligatorische „Hast wieder zugelegt" hat sich Gruber in seinen 18
Jahren als Gemeinderat gewöhnt, auch wenn es ihn an schlechten Tagen
manchmal nervt. Doch seit Mai tragen die Gemeinderäte nicht mehr den
Kollegen Gruber hinauf, sondern den Bürgermeister Gruber. Einen Rathauschef,
der weder den Sitzungssaal noch sein Büro aus eigener Kraft erreichen kann.
Bis heute arbeitet Bürgermeister Hajo Gruber (Unabhängige Wählergemeinschaft
Kiefersfelden), 52, in einem kleinen Zimmer im Erdgeschoss. „Der Kämmerer
hat mir gleich angeboten, dass ich sein Büro bekomme", sagt Hajo Gruber.
Alle hätten ihn hier toll aufgenommen, doch für die täglichen Abläufe ist
die Situation nicht praktisch. „So ein Rathaus hat ja eine Struktur. Der
Bürgermeister muss da mitten drin sitzen. Jetzt ist es mit den Akten eine
einzige Lauferei, nichts geht auf Zuruf", sagt Gruber. Mehr mag er zu dem
Thema gar nicht mehr sagen, Jammern ist nicht die Sache eines Mannes, der
bis zu seiner Wahl als Wirtschaftsanwalt in ganz Deutschland unterwegs war.
Bis Weihnachten soll ein Lift im Rathaus eingebaut werden. „Rechtlich war
das unkompliziert. Wir brauchen nicht mal eine Baugenehmigung", sagt Hajo
Gruber. Und die Kosten bleiben mit 60 000 Euro überschaubar.
Gruber erzählt das nüchtern und ohne jeden bösartigen Unterton. Wie sich
seine früheren Kollegen im Gemeinderat und sein Vorgänger als Bürgermeister
jetzt wohl fühlen? Barrierefreies Bayern? Claudia Huber bekommt bei diesem
Begriff einen Lachanfall, obwohl ihr bei dem Thema grundsätzlich überhaupt
nicht nach Lachen zumute ist. Die Behindertenbeauftragte von Kiefersfelden
findet die derzeitige Situation für ihren Heimatort einfach nur „blamabel".
Bei ihrem Amtsantritt im Jahr 1999 habe sie zum ersten Mal einen Brief mit
der Bitte geschrieben, das Rathaus barrierefrei zu machen, sagt sie. „Und
von da an habe ich das bei jeder passenden und auch mancher unpassenden
Gelegenheit gefordert." Gebaut wurde lediglich außen eine Rampe, damit
Besucher mit Behinderung wenigstens die acht Stufen ins Erdgeschoss der
früheren Gründerzeit-Villa überwinden können. Erwin Rinner, Grubers
Vorgänger, sagt, dass man in Kiefersfelden in den vergangenen Jahren
allerhand andere Vorhaben verfolgt habe. Der barrierefreie Ausbau sei
technisch schwierig in einem so alten Gebäude. „Wir haben uns schon Gedanken
gemacht, aber keine Lösung gefunden."
Hajo Gruber hat schlimmere Zeiten für Rollstuhlfahrer erlebt. Mit 18 Jahren
ist er beim Skispringen gestürzt, seither ist er gelähmt. Trotzdem zog er
sein Studium
Es geht ja nicht nur um den Bürgermeister, sondern um jeden Besucher
mit Rollator
durch, Kommilitonen mussten ihn ständig im Rollstuhl tragen, wenn eine
Treppe im Weg war. Barrierefreiheit war an der Universität damals gar kein
Thema. „Ich habe immer Hilfe bekommen. Es ist mir in meinem Leben vielleicht
nur einmal passiert, dass ich negative Reaktionen erhalten habe", sagt
Gruber. Doch für das Leben im Rollstuhl gilt natürlich auch: „Unabhängigkeit
hat einen Wert."
Viel lieber will eraber über die Probleme im Ort sprechen, die er als
Bürgermeister anpacken will: neue, qualitative Arbeitsplätze schaffen,
attraktive Grundstücke für Gewerbe anbieten, den Tourismus wieder ankurbeln.
Eine Lösung für den Zulauf zum Brennerbasistunnel muss her, die keinesfalls
mitten durch den Ort verlaufen darf. Und natürlich will er für das
Kiefersfeldener Ritterspiel werben, für das er auch als Bürgermeister an der
Kasse Karten verkaufen will wie all die Jahre zuvor. Mitspielen kann er
nicht mehr, seine klassische Kiefersfeldener Theaterkarriere endete nach den
Jugendstationen Prinz, Knappe, Räuber.
Doch seine Behindertenbeauftragte Claudia Huber wird schon dafür sorgen,
dass er auch das Thema Barrierefreiheit nicht aus den Augen verliert.
Schließlich scheitert ja nicht nur der Bürgermeister im Rathaus ohne Hilfe,
sondern auch jeder Besucher mit Rollator. Auch eine gehbehinderte Großmutter
will dabei sein, wenn ihr Enkel standesamtlich heiratet. „Mir ist schon
klar, dass der Bürgermeister die Balance wahren muss, weil sonst der Vorwurf
kommt, er würde sich nur darum kümmern", sagt sie. Doch an Bushaltestellen,
an der Ampel, in Gaststätten und Arztpraxen, an vielen Stellen in
Kiefersfelden scheitern Menschen mit Behinderung. „Ich habe Hajo Gruber
schon eine Liste geschickt", sagt sie. Dass sie wieder so aktiv ist, darum
hat sie der Bürgermeister persönlich gebeten. Denn im Sommer 2012 hatte sie
ihren Job schon hingeschmissen. „Nie war Geld für meine Anliegen da, für
andere aber sehr wohl." Der Kampf um die Barrierefreiheit in Kiefersfelden
habe sie frustriert und ausgelaugt. „Ich habe nur an eine Wand hingeredet."
SZ / 01.09.2014